dahlemer
verlagsanstalt

Wolfgang Priewe
Jesus von Neukölln
Erzählungen aus Berlin-Neukölln

mit Illustrationen von Esther Riegler


Paperback, 154 Seiten € 17,50
ISBN 978-3-928832-91-5


Wenn Gottvater ständig mit den anderen Gottheiten verhandelt und wenig Zeit hat für seinen Sohn, was liegt da näher, als wieder auf die Erde zurückzukehren. Damals war er ja wiederauferstanden, also: Was soll’s? Wenig später weilt Jesus in Neukölln unter den Obdachlosen und sorgt dafür, dass sie einige spannende Initiativen entwickeln – die immer wieder in der Öffentlichkeit gesungene Obdachlosen-Hymne ist deren Glaubens- und Zusammenhalts-Bekenntnis.
Wolfgang Priewe versteht es wundervoll, viele Symptome zu umreißen, die Ausgrenzungen hervorbringen können – und wie man denen begegnen kann.


Hymne der Obdachlosen
Wir sind die Lumpazis
Wer uns betrügt
Das Geld und die Banken
Für sie zählt nur Profit
Wir sind so gut wie nackt
Aber doch Menschen geblieben
Und das macht uns stark
Keiner bleibt zurück
Nehmt euch an die Hand
Das Herz ist der Kompass
Für unsren Widerstand
Das Herz ist der Kompass
Für unsern Widerstand

Ein Evangelium der etwas anderen Art.
in: zugetextet.com 28.7.2022
von
Stephan Moers

Könnte es sein, dass Jesus nach seiner Grablegung und Auferstehung nicht nur den Jüngern erschienen ist, sondern mittlerweile wieder unter uns weilt?
»Guten Tag, mein Name ist Jesus von Nazareth, wie geht es Ihnen?«
Sähen wir einen Menschen, der andere Leute so anspräche, man würde wohl schleunigst die Straßenseite wechseln, wenn nicht sogar jemand die Polizei verständigte. Welch merkwürdiges Verhalten von uns, aber Jünger und Gläubige sind eben auch nicht mehr das, was sie mal vor 2000 Jahren waren. Genau diese Erfahrung macht Jesus im vorliegenden Band. Jesus hat genug davon, neben Gottvater zu sitzen und alles aus göttlicher Ferne zu betrachten. Dieser, Jahwe und Allah, die drei Großen der abrahamitischen Religionen, sind ziemlich konsterniert darüber, was die Menschheit in ihrem Namen treibt und anstellt und so kommt es, dass der jeweilige Gott zwar nicht tot, aber ziemlich ratlos ist. Eine schöne Schöpfung haben die sich da eingebrockt.

Jesus sucht also den direkten Kontakt und den auch noch ausgerechnet in Berlin Neukölln. Hier versucht er einen jungen Mann (kein Christ, dafür mit ostdeutscher Jugendweiheprägung) mit einer jungen Frau (aus einer muslimischen Familie stammend) zueinander zu bringen. Die Götter Allah und Gottvater sind sehr dafür, und auch die beiden jungen Menschen verspüren die gegenseitige Liebe, doch Tradition, Familienehre und ein bereits ausgesuchter Mann für die Frau lassen alles in einem Eklat enden. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten.
Das vorliegende Buch von Wolfgang Priewe kommt wirklich daher wie ein Evangelium. Das Ganze hat durchaus einen Strang, doch immer wieder verlagert sich der Fokus auf einzelne Handlungsschauplätze, wie bei den Gleichnissen, durch die Jesus seine Botschaft zu vermitteln sucht. Ein allzu biblischer Eindruck soll nun aber nicht entstanden sein.

Priewe siedelt den Handlungsrahmen in der Obdachlosenszene von Neukölln a,n und man bekommt einen Eindruck von Freud und Leid derer, die die vermeintlichen Verlierer der Gesellschaft sind. Jesus, zerknirscht ob seines fehlgeschlagenen Versuchs, zwei Liebende zueinander zu führen, findet sich bei Obdachlosen unter einer Brücke wieder. Der Leser erfährt von den unterschiedlichen Charakteren und ihren Biografien. Sie alle sind Menschen, mit unterschiedlichen Lebenswegen und sie suchen ihr Leid zu lindern. Man begegnet somit nicht mehr dem übelriechenden Trinker an der Straßenecke, sondern dem Menschen, der Person, die es sich mit Alkohol wenigstens für ein paar Augenblicke etwas leichter macht. Das stimmt nachdenklich, und auch der Rezensent folgt der literarischen Einladung und Mahnung, hinter allem ach so Offensichtlichen immer das Versteckte, ja den Menschen, zu sehen und zu suchen. Wie schnell erliegt man doch seinen Vorurteilen. Vorsicht muss beim eigenen Denken beginnen.
Im Verlauf des Buches entwickeln sich die Handlungen. Ein Künstler- und Obdachlosenchor wird gegründet, ein Lied bewegt und verändert etwas – auch die Situation der Protagonisten. Stets mittendrin Jesus, der immer wieder lernt, wie vertrackt das Menschsein doch ist, denn immer wieder stolpert er über die Widersprüche, die in uns liegen. Manche Protagonisten verschwinden, andere werden deutlicher.

Die Evangelienhaftigkeit der Handlung ist Stärke und Schwäche zugleich. Einerseits ermöglicht sie eine unheimlich abwechslungsreiche Erzählweise. Andererseits neigt sie dazu, sich zu sehr im Einzelnen zu verlieren. Handlungsstränge werden schnell belanglos. Schwächen, die man gern vergibt, denn die menschliche Nähe, die die Protagonisten in Wolfgang Priewes Buch auszeichnet, vermittelt dem Leser Erdung und veranlasst ihn zum Innehalten.

Der Rezensent fasst kurz zusammen: Grundsympathisch. Und daher durchaus eine Kaufempfehlung.




Von Obdachlosen und Schauspielern
Tagesspiegel 25.03.2022

Mit dem Buch »Jesus von Neukölln« taucht Wolfgang Priewe auch in sein Leben ein. Und das erzählt sich selbst wie ein Roman.
Von Thomas Wochnik

Unverhofft kommt oft: »Vor etwas über sechs Monaten«, erzählt der Verleger Michael Fischer, »tritt der Herr Priewe bei einer Lesung an mich heran, sagt ›Ich habe mir mal angeguckt, was du so für Bücher machst. Ich glaube, wir kommen da zusammen‹ und drückt mir ein Manuskript in die Hand, von dem ich mir erstmal nichts erhoffte. Inzwischen bin ich sein Verleger, Fan und Freund.«

Das Buch, sagt Fischer, handele vom Jesus von Neukölln, so steht es auch auf dem Einband. Dieser Jesus ist eigentlich ein langzeitarbeitsloser Schauspieler, der in der Jesusrolle aufgeht, die ihm durch verschiedene Umstände zukommt.

Er gesellt sich in der Geschichte zu einer Gruppe obdachloser Menschen im Reuterkiez, aus der unter seiner Organisation ein Chor wird, der schon bald vielbeachtet auf dem Alexanderplatz auftritt und beginnt, Geld abzuwerfen. Und Geld, so viel darf verraten werden, korrumpiert. Priewe wisse genau, wovon er schreibe, erzählt Fischer, habe die Millieus, von denen er erzählt, selbst gut kennengelernt. »Das Buch ist tragisch, und doch kommt man aus dem Kichern nicht heraus«.
Romanstoff eben – ein bisschen, wie Priewes eigenes Leben: Geboren im Januar 1939 in Berlin-Neukölln, habe Priewe sein Berufsleben als Schauspieler begonnen. Und zwar auf einer Bühne in Buenos Aires, an einem von jüdischen Emigrant:innen gegründeten deutschen Theater – dorthin sei die Familie nach dem Krieg ausgewandert, sagt Fischer. 1961, zurück in Berlin, spielte er an verschiedenen West-Berliner Theatern und wirkte in Filmen wie Rockys Messer, Cliff Dexter und anderen Produktionen mit.

Die, wie Priewe selbst sagt, »ständige Unterordnung unter die Regieanweisungen« habe ihn »zunehmend genervt«, weshalb er das Abitur nachholte und an der Pädagogischen Hochschule Berlin Sozialpädagogik studierte. 1987 gründete er mit Rita Seggermann in Tempelhof das »Werkhaus Anti-Rost« für Menschen über 50, das finanziell Benachteiligten Handwerkerdienste anbot – bis 2017 arbeitete er hier mit.

»Priewe«, sagt Fischer, »hat überhaupt keine Berührungsängste«. So habe er, als er 2004 davon hörte, dass im kriegsgebeutelten Sierra Leone Strom und Kleidung fehlten, kurzerhand beschlossen, das zu ändern. Zusammen mit einem Berufsschullehrer gründete er das Projekt »Jung und Alt für eine Welt« (ab 2008 der Verein YOOW).

In einer Sammelaktion, erzählt Fischer, hätten sie zunächst 150 Tretnähmaschinen organisiert, aber nicht gewusst, wie sie die nun nach Sierra Leone transportieren sollten. »Als Priewe irgendwo las, dass Bundespräsident Horst Köhler zufällig dort hinfliegen würde, kontaktierte er mal eben den Präsidialstab und schaffte es, dass der Köhler mit immerhin 50 Nähmaschinen nach Sierra Leone flog«.

Es gelang ihnen über 500 Tretnähmaschinen nach Sierra Leone zu bringen. Mit dem Werkhaus Anti-Rost und KfZ-Berufsschülern baute Priewe eine mobile Schlosserwerkstatt, die mit den Nähmaschinen verschifft wurde. Das Ziel: Ausbildungs- und Arbeitsplätze in Sierra Leone schaffen. Für sein Engagement erhielt Priewe 2009 das Bundesverdienstkreuz. »Jesus von Neukölln« heißt seine Sammlung von autobiografisch angelehnten Erzählungen aus Neukölln.


Milieustudie von Wolfgang Priewe: Der »Jesus von Neukölln« mischt sich unter die Obdachlosen




Leute: Neukölln
Tagesspiegel, 9. März 2022
von Clara Manser

Jesus von Neukölln. Nicht erst vor 30, sondern vor 83 Jahren, im Januar 1939, kam Wolfgang Priewe zur Welt. »Vor etwas über sechs Monaten«, erzählt der Verleger Michael Fischer, »trat der Herr Priewe bei einer Lesung an mich heran, sagte ‘Ich habe mir mal angeguckt, was du so für Bücher machst und glaube, wir kommen da zusammen‘ und drückte mir ein Manuskript in die Hand, von dem ich mir erstmal nichts erhoffte. Inzwischen bin ich sein Verleger, Fan und Freund.« Das Buch handle vom Jesus von Neukölln – eigentlich ein langzeitarbeitsloser Schauspieler, der in der Jesusrolle aufgeht. Der gesellt sich in der Geschichte zu einer Gruppe Obdachloser im Reuterkiez, aus der unter seiner Organisation ein Chor wird, der schon bald vielbeachtet auf dem Alexanderplatz auftritt und beginnt Geld zu machen. Und Geld, so viel darf verraten werden, korrumpiert. Priewe, erzählt Fischer, habe ihn schnell fasziniert – als Autor, wie als Typ. »Das Buch ist tragisch, und doch kommt man aus dem Kichern nicht heraus«.

In Neukölln geboren, sei Priewe schon als Kind nach Buenos Aires gekommen, wo er Schauspiel gelernt habe. Er spielte an der dortigen Dependance des Deutschen Theaters und in diversen Filmen mit. Zurück in Berlin studierte er später Sozialpädagogik, gründete 1987 das »Werkhaus Anti-Rost« in Tempelhof, das sozial schwachen Menschen Handwerkerdienste anbot. »Priewe«, sagt Fischer, »hat überhaupt keine Berührungsängste«. Als er 2004 davon hörte, dass im kriegsgebeutelten Sierra Leone Strom und Kleidung fehlten, habe er kurzerhand beschlossen, das zu ändern, binnen kurzer Zeit 150 Tretnähmaschinen organisiert und nicht gewusst, wie er die nun nach Sierra Leone transportieren sollte. »Als er irgendwo las, das Bundespräsident Horst Köhler zufällig dort hinfliegen würde, kontaktierte er mal eben den Präsidialstab und schaffte es, dass der Köhler mit immerhin 50 Nähmaschinen nach Sierra Leone flog«.
Insgesamt 500 Tretnähmaschinen sowie weitere Bedingungen für handwerkliche Ausbildungsstätten, zum Beispiel Schlosserwerkstätten, gelang es ihm mit der von ihm gegründeten Organisation »Jung und Alt für eine Welt« in Sierra Leone zu errichten. Für sein soziales Engagement erhielt Priewe 2009 das Bundesverdienstkreuz am Bande. Jesus von Neukölln heißt die Sammlung von autobiografisch angelehnten Erzählungen aus Neukölln mit Illustrationen von Esther Riegler. 154 Seiten zu 17,50 Euro, erschienen bei der dahlemer verlagsanstalt.



»Gewöhnliche Menschen. Erinnern an die von früher, bloß die Wohnungsfrage hat sie verdorben.«

Michail Bulgakov ›Der Meister und Margarita‹

Während in Bulgakovs Roman ›Der Meister und Margarita‹ Moskau vom Teufel besucht wird, erkundet in Wolfgang Priewes Roman Jesus das Berlin-Neukölln der Nachwendezeit und es geht darin mindestens so fantastisch und skurril zu wie bei Bulgakov.

Dass Jesus seine Heilsmission in einer Mietskaserne (Assoziation:Knast) im Reuter-Kiez beginnt, ist zwar eher zufällig, führt aber die Lesenden ein in eine soziale Wirklichkeit, die aus selbsternannten Dazugehörenden, nur Halb-Dazugehörenden und den verschiedenen Ausgeschlossenen besteht. Nachdem Jesu Versuche, eine kultur- und religionsübergreifende Liebesgeschichte auf den Weg zu bringen, tragisch scheitert, sucht er erschüttert das Weite. Zu unbekannt und unüberschaubar sind die Problemkonstellationen.

Jesus als Heimatloser findet Zuflucht bei den Obdachlosen, und nun entspinnt sich eine real organisierte und kooperative Heilsgeschichte, die Legenden in der wirklichen Welt übertrifft.
Wolfgang Priewe gelingt es, durch treffsichere, präzise Charakterisierungen und genaueste Milieu-Kenntnis eine Kette von ›Wundern‹ erlebbar und nachvollziehbar zu machen.

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es – mit und ohne Jesus!



Zeitschrift für Theaterpädagogik, Nr. 80
von Gerd Koch

Der Berliner Autor Wolfgang Priewe (Jahrgang 1939) ist ausgebildeter Schauspieler (erstes Engagement am Deutschen Theater in Buenos Aires) und studierter Sozialpädagoge. Das Bundesverdienstkreuz erhielt er 2009 für das von ihm initiierte Selbsthilfe-Projekt »Jung und Alt für eine Welt (YOOW e.V.)«. Er kennt die Bedeutungsvielfalt des Wortes THEATER – von ›Kunst‹ bis ›Soziales‹.

In etwa der Mitte des Buches geht es ans ›richtige‹ Theater-Machen: Zuerst szenisches Singen auf dem Alexanderplatz in Berlins Mitte. »Wir jehn unter de Brücke, da sind wa unter uns, keener stört, und die Akustik ist besser.« (S. 84) »Die Bühne war erstmal der Alex.« (S. 86) »Uli war begeistert. Alles lief nach seinem Gusto. Für Jesus ging hingegen alles den Bach hinunter.« (S. 94)

Es entsteht so etwas wie ein Musical: »Die Kostümierung. Obdachlosigkeit wird mit euren sonst längst entsorgten Klamotten mit der Lumpazi-Hymne zu einer Art Musical … Und was spricht dagegen? Popularität ist doch nicht die Pest. Unser Auftritt ist inzwischen Kunst. Und Kunst stellt sich dar. Mit allen seinen Möglichkeiten. Wir sind keine Agitprop-Gruppe, wir klären auf, sind politisch, aber Künstler« (S. 95), sagt Uli. Es entsteht eine Sprech-TheaterTruppe und noch viel mehr …

Und die »Hymne der Obdachlosen« ist immer dabei. Deren 1 Zeile lautet: »Wir sind die Lumpazis« und endet mit der Zeile »Für unseren Widerstand«: »Zum Abschluss dann der Lumpazi-Song. (-) Uli hatte lange gezögert, den Text im Publikum zu verteilen. War doch gewissermaßen ihr Manifest.« (S. 92; vollständig abgedruckt etwa auf S. 85, S. 120 und auf der Buch-Rückseite). »Hildegard, die ›Künstlermutter‹ und Schatzmeisterin (den Titel hatte sie sich selber gegeben) … hatte … Anfragen von mehreren Studios, den Song international zu vermarkten … Der Lumpazi-Song wurde in diverse Sprachen übersetzt, wurde sowat wie die Internationale der Obdachlosen. Und det Beste dabei war, de Einnahmen flossen ooch … Allet wurde solidarisch jeteilt« (S. 131; die sprachliche Einfärbung ins Berlinische gibt immer mal wieder realistisches Lokal-Kolorit).

Ach ja: Und Jesus von Neukölln,
›wer is denn dette‹ (Berlinerisch gefragt)? Ist er VON Adel; ist er AUS Berlin-Neukölln, einem Stadt-Bezirk, der nicht gerade den besten Ruf hat … ? Er stellt sich mal so vor: »Jesus, geboren in Nazareth in Galiläa … Ich lebe jetzt mit obdachlosen Brüdern, einer Schwester und einem minderjährigen Moslem unter einer Brücke in Neukölln. – das ist alles, was ich zu mir zu sagen habe.« (S. 82) Aber der Autor liefert weitere Informationen in seiner drittletzten Erzählung unter der Überschrift »Leo Nowak. Erzähler, Erklärer und Künstler, Neuköllner erzählt von den Begegnungen mit Valentin Weber alias Jesus von Neukölln« (S. 124 ff.). Die letzte Erzählung- wieder vom »Leo Nowak«- hat die Überschrift: »Eine Industriebrache in Neukölln steht zum Verkauf. Symbolisch für 1 € … mit einer baufälligen, ziegelstein-gebauten Fabrikhalle. Nicht einsturzgefährdet, aber durch und durch ausbau- und renovierungsbedürftig.« (S. 139 ff.) Nowaks Bericht (und damit das Buch) endet mit diesen zwei Sätzen (berlinerisch): »So det wars. (–) Den jeneigten Lesern allet Jute!« (S. 153) Da bleibt dem Rezensenten nur noch gerne hinzuzufügen: … auch denjeneigten Leserinnen allet Jute …!